Berufskrankheit und Arbeitsunfall am Beispiel von Covid-19

Berufskrankheit und Arbeitsunfall

am Beispiel von Covid-19

Worin besteht der Unterschied zwischen einer Berufskrankheit und einem Arbeitsunfall? Was bedeutet dieser Unterschied für Covid-19? Wie können Betriebsrät:innen am Arbeitsplatz Erkrankte unterstützen? Über all diese Fragen haben wir mit der Leiterin der Berliner Beratungsstelle Berufskrankheiten, Frau Karin Wüst, gesprochen.

Das Interview wurde von Christopher Rochow, ArbeitGestalten GmbH im Rahmen des Modellprojekts „Die Interessensvertretung in Berliner Unternehmen stärken“ geführt. Das Projekt unterstützt primär nicht-freigestellte Berliner Betriebsrät:innen und wird aus Mitteln der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales gefördert.




Christopher Rochow: Frau Wüst, ich freue mich, heute mit Ihnen sprechen zu können. Unser Thema wird sein: Krank durch die Arbeit. Handelt es sich um eine Berufskrankheit oder einen Arbeitsunfall? Ist die Infizierung mit dem SARS-CoV 2 Virus am Arbeitsplatz ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit? Bevor wir damit starten, können Sie mir bitte ein wenig über die Berliner Beratungsstelle Berufskrankheiten erzählen? Was sind Ihre Angebote?


Karin Wüst: Es gibt uns seit dem 1. März 2020. Wir sind also noch relativ jung. Unser Hauptziel ist es, am Arbeitsplatz Erkrankte zu beraten. Handelt es sich um einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit, dann ist das ein Fall für die Unfallversicherung und muss von den Arbeitgebenden und den behandelnden Ärzt:innen dort gemeldet werden. Die Beschäftigten und andere können den Verdacht der Erkrankung melden. Voraussetzung für die Anerkennung ist, dass der kausale Zusammenhang zwischen Erkrankung und Arbeitstätigkeit nachgewiesen werden kann. Wir unterstützen bei der Frage: Gibt es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Arbeit und Erkrankung? Wir begleiten im Feststellungsverfahren sowie im Widerspruchsverfahren bis hin zur Klage vor Gericht. Die Beratung ist unser Kerngeschäft.

Auch die Öffentlichkeitsarbeit ist uns sehr wichtig. Wir erstellen Flyer, führen Veranstaltungen durch und stehen als Referentinnen zur Verfügung. Alle Beteiligten sollen die gesetzlichen Regelungen kennen. Nur wer seine Rechte kennt, kann sie auch anwenden.

Ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit ist die Aktualisierung des Berufskrankheitenrechts. Die Berufskrankheitenverordnung vertritt nicht immer die Interessen der Beschäftigten. Wichtig ist uns auch die Kooperation mit Partner:innen wie den anderen Beratungsstellen, Gewerkschaften, Personalvertretungen.




Berliner Beratungsstelle Berufskrankheiten

Weitere Informationen zur Beratungsstelle und ihren kostenfreien Angeboten finden sich unter

berlin.de/sen/arbeit/beschaeftigung/beratungsstelle-berufskrankheiten





Sie haben Arbeitsunfall und Berufskrankheit angesprochen. Was ist der Unterschied zwischen den beiden?


Ich beginne mit den Gemeinsamkeiten. Die Beschäftigten müssen Symptome haben - also krank geworden sein. Der Nachweis ist erbracht, wenn eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von mindestens drei Tagen vorgelegt werden kann. Bei beiden muss der kausale Zusammenhang zwischen Erkrankung und Tätigkeit nachgewiesen werden.

Anders als der Arbeitsunfall ist die Berufskrankheit kein plötzliches Ereignis. Es ist in der Regel ein schleichender Prozess. Wenn Beschäftigte jahrelang schwer gehoben haben, bekommen sie vielleicht irgendwann einen Bandscheibenvorfall. Steht die Erkrankung in der Anlage der Berufskrankheiten-Verordnung, ist es eine Berufskrankheit. In dieser Liste sind aber nicht alle Erkrankungen aufgeführt. Zum Beispiel fehlen psychische Belastungen, obwohl bekannt ist, dass viele Beschäftigte am Arbeitsplatz auch psychisch belastet sind. Damit eine Erkrankung in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen wird, muss nachgewiesen sein, dass das Risiko der Erkrankung am Arbeitsplatz erheblich höher ist als das der Allgemeinbevölkerung.

Bei dem Arbeitsunfall muss es ein konkretes Ereignis gegeben haben. Zeitpunkt und Ort müssen bestimmbar sein. Für Covid-19 bedeutet das, es muss bekannt sein, wann sich die Betroffenen wo bei wem infiziert haben. Sonst wird die Anerkennung als Arbeitsunfall schwer.

Die Besonderheit bei Covid-19 ist, dass die Erkrankung sowohl ein Arbeitsunfall als auch eine Berufskrankheit sein kann. Arbeitet die infizierte Person im Gesundheitsbereich, in der Wohlfahrtspflege oder im Labor, ist es eine Berufskrankheit. In allen anderen Bereichen gilt eine Infektion als Arbeitsunfall.




Liste der Berufskrankheiten

Die vollständige Liste der anerkannten Berufskrankheiten ist in Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung aufgeführt und kann unter

gesetze-im-internet.de/bkv/anlage_1.html abgerufen werden.





Es kommt also zu Schwierigkeiten bei der Anerkennung von Covid-19 als Arbeitsunfall?


Die Anerkennung einer Erkrankung ist grundsätzlich nicht einfach. Auch nicht bei Covid-19. Im Berufskrankheitenverfahren muss in der Regel die Person bei der Sie sich angesteckt haben (Indexperson) und der Zeitpunkt der Infektion nicht bekannt sein. Es reichen die Nachweise, dass die Beschäftigten mit Infizierten gearbeitet haben und niemand in ihrem privaten Umfeld infiziert war.

Bei einem Arbeitsunfall wird verlangt: Indexperson, Zeitpunkt und Ort der Ansteckung. Diese Anforderungen können nur in den seltensten Fällen erfüllt werden. Der Datenschutz erschwert das Anerkennungsverfahren. Erkrankten wird nicht gesagt, welche Kontaktperson infiziert war. Oft ist eine Infektion am Arbeitsplatz wahrscheinlich, lässt sich aber nicht nachweisen.



Warum macht es trotz all dieser Hürden für Betroffene Sinn, sich um eine Anerkennung zu bemühen?

 

Bei der Anerkennung als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall erhalten die Versicherten Leistungen von der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Rehabilitation ist das oberste Ziel. Die Betroffenen sollen wieder am Berufsleben und am sozialen Leben teilhaben können. Krankenkassen übernehmen in der Regel die Behandlungskosten – aber nicht im gleichen Umfang.

Wird eine Minderung der Erwerbstätigkeit um mindestens 20% festgestellt, erhalten die Versicherten eine Rente. Sollte es zu einem Todesfall kommen, erhalten die Hinterbliebenen Renten. Sie sind bei einer Anerkennung als Arbeitsunfall oder Berufskrankheit deutlich besser abgesichert und versorgt.





Gesetzliche Unfallversicherung

Während Beschäftigte ihre Krankenversicherung selbst wählen, ist für die gesetzliche Unfallversicherung der Arbeitgeber zuständig. Jede:r, der in einem Arbeits-, Ausbildungs- oder Dienstverhältnis steht, ist automatisch versichert. Der Versicherungsschutz erstreckt sich auf Arbeits- und Wegeunfälle sowie Berufskrankheiten.





Verstehe, es macht einen großen Unterschied ob eine Infektion anerkannt wird oder nicht. Welche Rolle können Interessensvertretungen bei der Anerkennung spielen? Was kann beispielsweise der Betriebsrat unternehmen?

 

Es ist bekannt, dass viel zu wenig Verdachtsfälle von Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen gemeldet werden, nicht nur bei Covid-19. Es muss von einer großen Dunkelziffer ausgegangen werden. Unabhängig ob es sich um Hauterkrankungen, Muskel-Skelett-Erkrankungen oder Covid-19 handelt, sollte jeder Verdacht bei der gesetzlichen Unfallversicherung gemeldet werden. An dieser Stelle können die Betriebsrät:innen eine wichtige Rolle spielen. „Du bist an Covid-19 erkrankt? In deiner Abteilung sind weitere Personen erkrankt? Da kann es einen Zusammenhang geben, das melden wir.“ Der Betriebsrat kann den Verdacht der Erkrankung auch selbst melden.

Ein weiterer wichtiger Punkt: Zuhören. Hören Sie sich als Betriebsrät:in die Krankheitsgeschichte Ihrer Kolleg:innen an. So bekommen Sie wichtige Informationen, ob eine Meldung Sinn macht.



Was sind, neben dem mangelnden Bewusstsein Gründe dafür, dass so wenig Fälle gemeldet werden?

 

Uns wird mitgeteilt, dass Arbeitgebende sich weigern, den Verdacht der Erkrankung zu melden. Ein Grund könnte sein, dass eine Erkrankung am Arbeitsplatz ein Indiz für mangelnden Arbeitsschutz im Unternehmen ist. Die Beseitigung von Arbeitsschutzmängeln kann mit hohen Kosten für das Unternehmen verbunden sein, wenn zum Beispiel technisch nachgebessert werden muss. Außerdem könnte die Unfallversicherung die Beiträge für das Unternehmen erhöhen.

Nach unserer Erfahrung melden auch die Beschäftigten eher selten. Sie haben Angst vor Repressalien und Kündigungen. Den Beschäftigten wird von den Arbeitgebenden, aber auch von Betriebsärzt:innen häufig vermittelt, die Meldung habe sowieso keine Aussicht auf Erfolg. Das haben aber weder die Arbeitgebenden noch die Betriebsärzt:innen zu entscheiden – das ist Entscheidung der Unfallversicherung und letztendlich der Gerichte.



Noch einmal zu Covid-19: Eine Infektion kann zu Folgeerkrankungen führen, Stichwort Long-Covid. Wie wird das aktuell gehandhabt?

 

Voraussetzung für eine Anerkennung einer Long-Covid Erkrankung ist eine Anerkennung der Covid-19 Erkrankung als Berufskrankheit oder als Arbeitsunfall. Die gesetzliche Unfallversicherung leistet bei Long-Covid nur, wenn nachgewiesen werden kann, dass die Long-Covid Symptome eine Folge von Covid-19 sind.

Bei einem zunächst milden Verlauf, nehmen die Betroffenen nach kurzer Zeit ihre Tätigkeit wieder auf. Die Belastung ist aber doch zu groß und Sie klappen wieder zusammen. Jetzt sind Sie in der Pflicht nachzuweisen, dass die Erkrankung eine Folge der vorangegangenen Covid-19 Erkrankung ist. Die Unfallversicherung kommt oft zu dem Ergebnis, dass die Folgeerkrankung nichts mit der Erkrankung an COVID-19 zu tun hat. Die Leistungen werden eingestellt. Die Erkrankten gelten aus Sicht der Unfallversicherung als genesen.

Im Kontext von Covid-19 wird medizinisches Neuland betreten. Langsam bilden sich Untersuchungsmethoden heraus, die genauer bestimmen können, welche Beschwerden auf eine vorangegangene Covid-19 Erkrankung zurückzuführen sind. Die Betroffenen müssen hoffen, an eine spezialisierte Einrichtung zu gelangen. Die Mediziner:innen spielen bei der Anerkennung von Long-Covid als Berufskrankheit oder als Arbeitsunfall aktuell die zentrale Rolle.




Long-Covid

Die Betroffenen-Initiative Long-Covid Deutschland longcoviddeutschland.org/ unterstützt durch Informationen und Selbsthilfegruppen.





Warum argumentieren die Unfallversicherungen denn so genau?

 

Wenn Betroffene die Anerkennung als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall bekommen, dann muss die Versicherung Leistungen erbringen: Die Behandlungs- und Untersuchungskosten, bei Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Rente. Eventuell kommen weitere Kosten hinzu, bspw. Umbaumaßnahmen in der Wohnung, wenn Betroffene keine Treppen mehr steigen können. Es geht also um viel Geld.


Vielen Dank für das Gespräch und die wichtigen Informationen.

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